Lieber Paulus, du mußt nicht alles glauben, was im Internet steht.
Der Artikel, auf den du dich beziehst, ist nicht besonders doll. Es steht jede Menge drin oder wird unterstellt, was so nicht stimmt. Das Dumme ist: Man könnte locker mehrere Seiten schreiben, um zumindest die wesentlichen Punkte klarzustellen. Es ist diese Asymmetrie, die so nervt (die wohl auch einige Forenteilnehmer an dir nervt):
Irgendein Depp behauptet irgendwas. Und dann soll man das mal widerlegen. Die Behauptung ist rasch aufgestellt, das kann ein einzelner Satz sein, beispielsweise so: “Mein Wochendhäuschen steht auf der Lichtgeschwindigkeit. So.” Und dann soll man sich gefälligst die Finger wundschreiben, um das zu widerlegen.
Es funktioniert aber genau andersrum:
Wer etwas Abenteuerliches behauptet, ist in der Beweispflicht. DER muß sich die Finger wundschreiben. Und je abstruser und abweichender von der “Lehrmeinung”, desto mehr Mühe muß er sich geben. Ich wollte eigentlich gar nichts weiter dazu sagen, weil das völlig vergeblich ist.
Ich sag jetzt aber doch mal was zu diesem Artikel.
1. “Morphospecies”:
Die verwandschaftlichen Beziehungen ausgestorbener Arten untereinander oder zu rezenten Arten konnte bis vor kurzem nur durch den Grad der Ähnlichkeit der diversen Morphologien bestimmt werden. Wo man dann die Grenze zwischen Arten und Unterarten zieht, beruht auf dem Grad der Ähnlichkeit und natürlich auf Übereinkunft. Im allgemeinen wird unterstellt: Je unähnlicher, desto ferner miteinander verwandt.
Man hat auf diese Weise im Verlauf der letzten Jahrzehnte den Neandertaler mal zu uns gezählt und als Unterart betrachtet (“Homo sapiens neanderthalensis”), man hat ihn manchmal auch eher als eigene Art betrachtet (“Homo neanderthalensis”). Das legt daran, daß er uns ähnlich ist, aber nicht ganz genauso. Mal betont man eher die Ähnlichkeit, mal eher die Unterschiede, das ist zeitgeistabhängig. Allerdings ist das ziemlich wurschd, denn es handelt sich nur um ein Etikett.
Die Neandertaler-Skelette sind da und ändern sich nicht, nur die Nähe zu uns und unserer Morphologie wird anders bewertet. Und natürlich hatte der Neandertaler auch Vorfahren. Die Grenze zu ihnen verläuft fließend. Wann es den ersten Neandertaler gab, läßt sich also nicht exakt bestimmen.
Die meisten Wissenschaftler würden es zur Zeit wohl so formulieren:
“Der Homo heidelbergensis weist ein Merkmalsmosaik aus eher modernen und eher archaischen Merkmalen auf (wobei “modern” meint: so wie wir und “archaisch”: so wie Homo ergaster / Homo erectus). In den letzten paar hunderttausend Jahren entwickelte sich aus ihm in Europa und Westasien der Neandertaler mit seinen (unter-)artspezifischen Merkmalen, in Afrika der Homo sapiens mit seinen (unter-)artspezifischen Merkmalen.”
Ab wann genau es Neandertaler gab, läßt sich also nicht genau sagen. Manche sagen so, andere sagen anders, und es ist einfach Definitionssache.
Viele bringen ihn mit der Werkzeugkultur des Mousterien in Verbindung, das vor ca. 300 ka auftaucht. So gesehen wären dann auch die Schöninger Speere Werkzeuge des Neandertalers (Thieme selbst schreibt sie ja dem “H. erectus” zu, ist aber auch egal - frühe Neandertaler oder späte Vertreter des H. erecus bzw H. heidelbergensis - das ist Jacke wie Hose.
Entscheidend ist hier, WIE ALT sie sind, also zu welchem Zeitpunkt unsere Vorfahren, wie auch immer man sie einklassifiziert, schon derartig komplex denken und vor allem planen konnten).
2. Paläogenetik:
In den letzten Jahren mischen sich die Genetiker ein, indem sie die mtDNA-Unterschiede untersuchen. Das geht nur, wenn überhaupt mtDNA übriggeblieben ist.
Grundsätzlich ist aDNA degradiert und verunreinigt. Das macht Probleme. Und dann ist es so, daß die Mutationsrate natürlich nur geschätzt werden kann. Paläogenetiker sagen deshalb nie “Neandertaler und H. sapiens hatten vor 320 ka den letzten gemeinsamen Vorfahren”. Sondern sie schreiben:
“Wir fanden an den Positionen x, y, und z soundsoviele Unterschiede. Bei einer geschätzten Mutationsrate von soundsoviel entspräche das einer Zeit von ca. 650 bis 300 ka”.
Die Presse macht dann daraus:
“Die Wissenschaft hat festgestellt: Neandertaler und wir hatten seit 400 000 Jahren keinen Sex mehr!”
So, und das liest du dann und baust darauf dein Weltbild auf.
Nicht gut. Kauf dir Fachbücher.
Natürlich haben es die Paläoanthropologen schwer mit der Datierung, keiner hat je Gegenteiliges behauptet. Das ist keine neue Erkenntnis. Sie haben es nur dann verhältnismäßig leicht, wenn sie mehr oder weniger direkt physikalische Datierungsmethoden anwenden können (die Funde von Dmanissi sind ein gutes Beispiel).
Aber die Phantomzeitphantasten und du, ihr lehnt das ja ab. So bleibt mehr Raum für eigene Ideen, ich versteh das schon. Träum weiter.
“So funktioniert Wissenschaft”, wenn ich das schon lese. Du magst den Begriff “Wissenschaft” fehlerfrei schreiben können, aber du hast ganz offensichtlich nicht den Hauch einer Ahnung, wie Wissenschaft funktioniert. Schlimm mit dir, wirklich.
Ach ja, und zum eigentlichen Thema: Von mir gibts eine gute Bewertung, weiter so!