Rätselhafte Inschrift auf einem Kreuz von 1538

Wir schreiben Ihnen aus Belgien. Wir sind Mitglieder des lokalen Geschichtsverein und stehen vor einem Rätsel. In unserem Dorf Les Hayons (bei Bouillon gelegen) war eine kleine Eisenschmelze, später Schmiede, von der heute fast nichts mehr besteht. Auf einem Giebel der Schmiede hing ein Kreuz aus Gusseisen von 1538 (siehe Fotos) mit einer gothischen Inschrift und in der mündlichen Uberlieferung im Dorf wird erzählt dass dieses Kreuz im Schrott gefunden wurde (wann weiss niemand mehr) und dass die Arbeiter sich weigerten “den Herrgott in den Ofen zu stecken”. Der Schmied hängte das Kreuz dann über die Einganstür der Schmiede. Wir haben zwei Fragen: Was bedeutet die Inschrift auf dem Kreuz? Aus welcher Gegend kann dieses Kreuz stammen? Es würde uns sehr freuen wenn jemand uns weiterhelfen könnten!

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Hallo lesaleines, wenn man keine Quellen mit überlieferten Inschriften dieser Art hat, ist es natürlich schwer einen Text der aus nur 4 Worten (?) besteht zu deuten und zu übersetzen. Die letzten Worte von Jesus bevor er am Kreuz starb werden uns überliefert als: " Es ist vollbracht !" Daran habe ich mich orientiert und in entsprechenden Wörterbüchern gestöbert. Ich gehe wegen dem “Ich” davon aus, dass es sich um eine deutschsprachige Inschrift handelt. Um 1538 wurde zwar ein sogenanntes “Frühneuhochdeutsch” geschrieben, aber bei solchen Dingen kann man in aller Regel einen “älteren Dialekt” voraussetzen. Für die Erkundung von Wortstämmen eignet sich dabei hervorragend das “Altsächsische” was übrigens mit dem “Altfränkischen” in Ihrer “frühen” Nachbarschaft verwandt ist. Das Ergebnis meiner Suche sieht wie folgt aus: So = so, sodann. wi = Ausruf des Schmerzes, des Unwillens, des Hohns oder der Verwunderung. Ich = ich nog = genug, erreicht ( vollbracht, vollendet ?) Mit b hohem Spekulationsgehalt [/b]könnte man also übersetzen: Sodann, oh weh ! ( Klagelaut ?) Ich (habe es ?) vollbracht. Wie bereits gesagt ist das mehr eine Arbeitshypothese und erhebt keinen Anspruch auf eine wissenschaftlich fundierte Übersetzung. Vielleicht regt das ja den einen oder anderen dazu an seine Kenntnisse hier kundzutun. Es geschehen immer wieder Wunder ! :grin: Wortquelle: G. Köbler, Altsächsisches Wörterbuch Mittelhochdeutsches Wörterbuch Gruß Kurti

Am fundiertesten dürfte die Inschriftenkommission helfen können: http://www.inschriften.net/ Die beschäftigen sich mit den Inschriften des deutschen Sprachraums in MA und Neuzeit. Vielleicht können Sie da Kontakt aufnehmen und man wird Ihnen vielleicht Vergleiche nennen können oder mehr zu der Inschrift berichten. Vielleicht können Sie das Ergebnis hier auch posten, denn es scheint sich ja um ein sehr interessantes Stück zu handeln!

Lieber Kurti, Vielen Dank für diese Antwort und die Recherchen. Nach tagelangem hin und herpuzzlen mit den Buchstaben, denken wir dass das erste Wort nicht “SO” sondern 60 bedeutet, denn der “0” ist sehr verschieden vom “o” in der zweiten Linie. Wir meinen auch dass das zweite Wort unten aus den Buchstaben “bog” besteht. Aber das alles ergibt keinen Sinn. In “Meiers Konversations-Lexikon von 1894” finden wir dann unter dem Begriff “Bog”: Bog (slaw., “Gott”) … Vielleicht eine heisse Spur? Vielen Dank im voraus für weiteres Suchen.

Also ich würds doch mit dem Inschriftenverein versuchen. Denn slavisch für BOG ist sehr schlechte Idee. Denn die slavischen Buchstaben für BOG sind бог. Dann müsste man bedenken, dass die Slaven Orthodox waren und ihr Kreuz etwas anders ausschaut und eigentlich BOG für heidnische Götter steht und für den christlichen Gott eher господь/Gospod verwendet wurde.

Hallo zusammen, was das Kreuz anbelangt so ist es m.E. eindeutig als deutschsprachig durch das “Ich” ausgewiesen. Desweiteren handelt es sich ziemlich sicher um “Mittelhochdeutsch”. G. Köbler Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Auch die Brüder Grimm erwähnen in ihrem “Deutschen Wörterbuch” genau die hier anzutreffenden Lautabweichungen. wi b) mhd.-nhd. wie hat die alte diphthongische lautung im obd. verbreitet beibehalten. die mundartenwbb. u. -grammatiken zeigen für das schweizerdt., oberelsäss. u. schwäb. die form wiə, woneben schwachtonige [b]>wĭwī g

Lieber Kurti, lieber astrofratz, lieber Gipiemme, Liebe Leser Nochmals vielen Dank für Eure Recherchen! Es ist sicher dass das Kreuz in einem Stück gegossen wurde und dass nichts fehlt. Unter den Inschriften sieht man die Eisenspangen die das Kreuz heute an der Mauer festhalten. Wir annexieren ein Photo des Kreuze in besserer Qualität, so dass Sie die Spangen sehen können. Wir haben schon vor einigen Tagen an “Deutsche Inschriften” geschrieben (Universität Bonn), aber wir haben noch nichts von ihnen gehört. Wir werden unsere Anfrage an andere Unis durchgeben. Wir halten Sie auf dem laufenden wenn wir Lösungsvorschläge bekommen! Kurtis Interpretation der Inschrift scheint uns sinnvoll, aber vielleicht haben andere Fachleute noch andere Deutungen. Vielen Dank im voraus an alle die uns helfen können dieses Rätsel in Belgien zu lösen!

Ein Aspekt wäre vllt noch die Darstellung Jesu: Soweit ich weiß, begann man erst Anfang des 16. Jh., Jesus Füße überkreuz darzutellen. Ich bin mir nicht sicher wo dieser Stil begann, möglichwerweise lässt sich dadurch die Herkunft bestimmen, sofern es nicht sicher ist, dass der Dorfschmied es selber anfertigte.

Hallo Heydenarchaeologie, der “dreinagelige” Kruzifixtyp begann bereits mit der Gotik. Ansonsten ist das Kruzifix in seiner Gestaltung schon merkwürdig. Der Kunststil erinnert eher an die Romanik und die Form an das orthodoxe Kreuz, aber dann müßte bei letzterem der untere Balken schräg stehen und in beiden Fällen wäre es viernagelig. Merkwürdig ist auch die Textplacierung, denn nicht zur Kreuzigungscene gehörender Text wurde in der Regel “unter” dem Kreuz auf einer extra Tafel angebracht. Auch die Wortwahl paßt nicht in die Zeit von 1538. Hier wäre aber ein Dialekt, der dem Mittelhochdeutschen noch verhaftet ist, denkbar. Sonderbar ist auch, dass kein "anno"oder ähnliches bei der Jahreszahl steht. Zu dem “60 wi” ist mir noch eine Deutung eingefallen. Aus gotischem und frühmittelalterlichem Schrifttum ist mir die Geflogenheit bekannt, dass man sein Alter in “Wintern” angab. Schwäbisches Wörterbuch mit etymologischen und historischen Anmerkungen von 1831. oder auch: Wulfila Bible, Lukas 2, 42 42 : jah biþe warþ twalibwintrus ( Anm.kurti: 12 Winter ), usgaggandam þan im in Iairusaulwma bi biuhtja dulþais, 42 Und da er zwölf Jahre alt war, gingen sie hinauf gen Jerusalem nach der Gewohnheit des Festes. oder: Heliand 144-179 habdun aldres er efno tuentig uuintro ( Anm.kurti: zwanzig wintrig ) an unero uueroldi. oder: Das Hildebrandslied in althochdeutscher-altsächsischer Sprache ih wallota sumaro enti wintro sehstic ur lante ich reiste der Sommer und Winter sechzig ausser Landes. Auch, wenn diese Gepflogenheit um 1538 nicht mehr allgemein üblich war, so könnte sich die Sitte in einigen ländlichen Bereichen durchaus gehalten haben. Damit würde sich der Text auf dem Kreuz wie folgt lesen: “60 wi(nter) Ich erreichte - 1538” Ich bin ja mal gespannt auf des Rätsels Lösung. :grin: Gruß Kurti